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Der Landkreis hat Geburtstag – ein Streifzug durch 200 Jahre Geschichte (Teil 8)

Berkatal, den 18. 08. 2021

Pressemitteilung

Eschwege, den 18. August 2021

 

 

Der Landkreis hat Geburtstag – ein Streifzug durch 200 Jahre Geschichte (Teil 8)

 

Zehnteilige Geschichtsserie anlässlich 200 Jahre Kurhessische Landkreise

 

Am 29. Juni 1821 wurden mit einem kurfürstlichen Organisationsedikt zur Umbildung der bisherigen Staatsverwaltung in Kurhessen die Landkreise erstmals als Verwaltungseben eingeführt. Diesen 200. Geburtstag der ehemaligen Landkreise Eschwege und Witzenhausen nehmen wir zum Anlass, um in einer zehnteiligen Serie ein Blick auf die Geschichte der Vorläufer des heutigen Werra-Meißner-Kreises zu werfen.

 

Autor der Serie ist Matthias Roeper, Leiter des Stadtarchivs in Witzenhausen und Verfasser zahlreicher stadt- u. heimatgeschichtlicher Publikationen.

 

Der heutige achte Teil der Serie wirft den Blick auf „Neubürger, Währungsreform und Entnazifizierung“.

 

 

Teil 8

 

Neubürger, Währungsreform und Entnazifizierung

 

Ein Blick sowohl in die Presse als auch die amtlichen Dokumente jener Tage zeigt, welche Probleme damals vordringlich zu lösen waren. „Die Wohnungskommission muss“, hieß es da in den Protokollen der Witzenhäuser Stadtverordnetenversammlung, „...mit allen Mitteln die Sicherstellung der Wohnungen für Ostflüchtlinge durchführen“ und die „Hessischen Nachrichten“ erschienen am 23. März 1946 mit der Schlagzeile „Europa hungert“ – um dann nur wenige Tage später ihren Lesern mitzuteilen, dass ab dem 1. April die Lebensmittelrationen von 1550 auf 1275 Kalorien pro Tag herabgesetzt werden. So erhielt, um diese Situation einmal plastisch vor Augen zu führen, der sog. „Normalverbraucher“ in der 93. Zuteilungsperiode vom 16. September bis 13. Oktober 1946 für den Zeitraum einer Woche folgende Lebensmittel: 1500 Gramm Brot, 150 Gramm Nährmittel, 3000 Gramm Kartoffeln, 75 Gramm Fett, 62,5 Gramm Zucker, 250 Gramm Fleisch, 50 Gramm Puddingpulver, 31,25 Gramm Käse, 50 Gramm Kaffee – Ersatz sowie einen Liter entrahmte Frischmilch.    

 

Selbst im Vergleich zu den letzten Kriegsjahren hatte sich der der Nahrungsmittelengpass dramatisch zugespitzt - mit den deutschen Ostgebieten standen die traditionellen Kornkammern des untergegangenen Reiches entweder unter polnischer Verwaltung oder lagen in der sowjetischen Zone und in den westlichen Landesteilen fehlte es an Düngemitteln und Saatgut, so dass die vorhandenen Anbauflächen noch nicht einmal den notwendigsten Bedarf decken konnten.

 

Damit waren auch schon die Dinge benannt, mit denen die Menschen am meisten zu kämpfen hatten: Wohnungsmangel und unzulängliche Versorgungslage. Im April 1946 trafen dann auch noch in großer Zahl die ersten Heimatvertriebenen ein, wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die einzelnen Städte und Gemeinden verteilt und verschärften durch ihre bloße Anwesenheit überall die ohnehin angespannte Wohnraum- und Versorgungslage auf geradezu dramatische Weise.

 

 

Bevölkerungsexplosion

 

Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zählte der Kreis Eschwege 51.191 und der Kreis Witzenhausen 37.860 Einwohner. Diese Zahlen erhöhten sich bis 1950 um ca. 22.000 (Eschwege) und 18 .000 (Witzenhausen), um sich dann Mitte der 60er Jahre durch Abwanderung in die Ballungsgebiete bei 65.520 (plus 28%, Eschwege) und 52.835 (plus 39%, Witzenhausen) einzupendeln.

 

Im Mai 1946 erreichten die Vertriebenentransporte ihren Höhepunkt und Hans v. Coelln, der kommissarische Landrat des Kreises Witzenhausen, informierte am 14. Mai die Bürgermeister seiner Gemeinden über weitere zu erwartende Transporte und die damit einhergehenden Schwierigkeiten: „Ich möchte darauf hinweisen, dass grundsätzlich sich jeder Ortsansässige gefallen lassen muss, dass er bei der Einweisung von Flüchtlingen in seinem Wohnraum beschränkt wird. Der Ortsansässige wird dabei in der Regel immer noch geräumiger und besser wohnen als der Flüchtling. Über der Gewährung der Unterkunft hinaus muss den Flüchtlingen auch der notwendigste Hausrat zur Verfügung gestellt werden, ebenso Schränke oder Schrankteile, damit der Flüchtling imstande ist, seine geringe mitgebrachte Habe einigermaßen ordnungsmäßig unterzubringen. Da die Haushaltungen der ortsansässigen Bevölkerung im Gegensatz zu den Verhältnissen in anderen Kreisen von Fliegerschäden nicht betroffen wurden, dürfte in jedem Haushalt noch so viel Geschirr vorhanden sein, dass auch die Flüchtlinge noch mit versorgt werden können. Ich werde künftige bei berechtigter Klage, falls es dem Quartiergeber an dem notwendigen sozialen Verständnis fehlt, mit aller Entschiedenheit gegen die Betreffenden vorgehen.“

 

Foto PM

Bildunterschrift: Auszug aus Bericht über Vertriebene in Eschwege

 

 

Die Integration der neuen Mitbürger war sicher nicht einfach, aber sie gelang Schritt für Schritt. Am leichtesten konnten sich naturgemäß die Kinder mit der neuen Situation abfinden und schon im Herbst 1946 hatten sich „…die eingewiesenen Flüchtlingskinder schnell mit den hier beheimateten Kindern angefreundet. Spannungen oder gar Zänkereien sind nicht zu beobachten, was umso erfreulicher ist, da es sich um verschiedene Konfessionen handelt. Die zugewanderten Familien sind alle katholisch und die Zahl der katholischen Schulkinder stieg dadurch beträchtlich.“

 

Eine von der Kreisverwaltung Witzenhausen Mitte der 50er Jahre in Auftrag gegebene „Kreisbeschreibung“ kommt bzgl. des Zusammenlebens von „Alteingesessenen“ und Heimatvertriebenen zu einem Ergebnis, das durchaus als repräsentativ auch für den damaligen Kreis Eschwege gelten kann: „Im Laufe von sieben Jahren (1946 – 1953) des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der verschiedenen Bevölkerungsteile“, so die Einschätzung, „… hat ein gewisses Abschleifen der anfänglich auftretenden Gegensätze mit sich gebracht. Wo diese noch heute auftreten, gehen sie meist auf Wohnungsschwierigkeiten zurück. Besonders unter den Jugendlichen bestehen kaum noch Gegensätze irgendwelcher Art. Durch Heirat sind schon manche Familienbande zwischen Alteingesessenen und Neubürgern geknüpft worden. Wenn die Heimatvertriebenen also in ihrem neuen Heimatgebiet schon in weitem Umfang Wurzeln geschlagen haben, bleibt es nun Aufgabe der Planung und Verwaltung dafür zu sorgen, dass diese wertvollen Kräfte weiterhin beim Wiederaufbau der Wirtschaft und im kulturellen Leben mithelfen.“

 

Viel dazu beigetragen hat auch der erstmals vom damaligen Ministerpräsidenten Zinn am 10. Januar 1951 verkündete „Hessenplan“ – im April 1965 als „Großer Hessenplan“ bis in die 70er Jahre fortgeschrieben – der nicht nur im Allgemeinen die Situation in dem neu gebildeten Bundesland verbessern sollte, sondern sich auch speziell der anfangs schwierigen Lage der Vertriebenen annahm und diese dann mit der Zeit deutlich zum Positiven wendete.

 

Foto PM

Bildunterschrift: Ein Konvoi von sog. "Spätheimkehrern" aus Kriegsgefangenschaft wird im Oktober 1953 auf dem Eschweger Marktplatz von der Bevölkerung begrüßt.

 

 

Kalte Wohnungen, kein Strom, Zwangsbewirtschaftung 

 

Ähnlich war die Lage auf dem Energiesektor: Kohlen standen nur den wichtigen Industrieunternehmen zur Verfügung und wenn es sie für die Allgemeinheit gab, machte es die zerstörte Verkehrsinfrastruktur nahezu unmöglich, sie zu den Verbrauchern zu transportieren. Brennholz war rationiert und die Versorgung mit elektrischem Strom, auch damals schon für die Gesellschaft fast überlebensnotwendig, konnte nur stundenweise erfolgen.

 

Wer gehofft hatte, die allmähliche Normalisierung des Lebens würde auch die Energieversorgung mit einbeziehen, sah sich bitter getäuscht. Im Gegenteil: Ende Februar 1947 erreichte die Versorgung mit elektrischer Energie in der Region einen neuen Tiefpunkt. „Wegen der immer schlechter werdenden Stromversorgungslage“, so der Leitartikel in den „Hessischen Nachrichten“, „…die aus einem akuten Kohlemangel und durch abfuhr von enormen Mengen Strom an ehemalige Feindstaaten entstanden ist, und um einer Katastrophe auf diesem Gebiet vorzubeugen, macht man sich Gedanken darüber, ob man ein Windkraftwerk errichten sollte.

 

Dieser höchst modern anmutende Vorschlag kam nicht zur Ausführung – die Versorgung mit Strom hingegen blieb mehr als mangelhaft. Besonders dramatisch gestaltete sie sich noch einmal im Winter 1948 / 49, also fast vier Jahre nach Kriegsende. Am 29. Oktober 1948 wurde bekannt gegeben, dass „…die Stromversorgung in Nordhessen katastrophal geworden“ sei, die „… Bevölkerung mit Stromabschaltungen in noch größerem Umfang als bisher rechnen“ müsse und „…auch tagsüber jederzeit Ganzabschaltungen vorgenommen werden“ können. Bis zum Herbst 1949 änderte sich an dieser Situation nur wenig, erst dann kam es zur lang ersehnten Wende zum Besseren

 

Noch bis Mitte 1948 unterlagen fast alle Gebrauchsgüter der Zwangsbewirtschaftung und es fehlte, neben den Lebensmitteln, an Kleidungsstücken aller Art und zahllosen Gütern des täglichen Bedarfs, die, wenn überhaupt, nur mit Bezugsscheinen zu bekommen waren. Die Zuteilung mit Bezugsscheinen war jedoch völlig unzureichend und die Stimmungslage der auf engstem Raum zusammengedrängten Bevölkerung entsprechend. 

 

 

„Deutsche Mark“ macht Mut

 

Zunehmend wertloser wurde auch das Geld und jeder, der es irgendwie konnte, hortete entweder Sachwerte oder tauschte sie bei den unzähligen sog. „Hamsterfahrten“ auf dem Land gegen Lebensmittel oder auf dem ausufernden Schwarzmarkt ein. Ein Stimmungsbild aus jenen Jahren gibt der damalige Großalmeröder Bürgermeister Carl Thiel. „Jeder einzelne ist der Überzeugung“, schrieb er Mitte 1947, „…dass in absehbarer Zeit eine Neuregelung der Währung durchgeführt werden muss, da die gegenwärtigen Verhältnisse auf die Dauer nicht tragbar sind. Industriebetriebe, Kaufleute usw. versuchen vielfach sich dadurch gegen eine Minderung ihres Vermögens zu schützen, dass sie die von ihnen erzeugten Waren zurückhalten, um dadurch einer Abwertung zu entgehen. Man muss daher von einer ausgesprochenen Flucht in die Sachwerte sprechen. Die Folge dieses Verfahrens ist aber, dass trotz aller Ankurbelungsversuche der Produktion die produzierten Waren nicht auf dem Markt erscheinen.“

 

Diese Zustände hatten die Menschen noch bis zum Sommer 1948 zu ertragen, ehe mit der Währungsreform der Grundstein für stabile wirtschaftliche Verhältnisse gelegt wurde. Und so war dann auch der 20. Juni 1948 – es war ein an Werra und Meißner trüber und verregneter Sonntag – ein ganz besonderer Tag. Überall stauten sich die Menschen in langen Schlangen, ein für die damalige Zeit nicht ungewöhnliches Bild. Nur ging es diesmal um kein Sonderangebot auf einen bestimmten Abschnitt der Lebensmittelkarte, sondern es gab das neue Geld, das „Deutsche Mark“ hieß und von dem niemand wusste, was es wert sein würde. Jedem standen 60,- Mark zu, zunächst kamen aber nur 40 Mark zur Auszahlung. Später konnten Reichsmark – Beträge, 1:10 abgewertet, in Deutsche Mark umgetauscht werden, waren aber in der neuen Währung zu versteuern.

 

Foto PM

Bildunterschrift: Die neue "Deutsche Mark" gibt den Menschen Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung.

 

 

Viele Millionen Reichsmark auf den Kundenkonten der Kreissparkassen in Eschwege und Witzenhausen lösten sich praktisch in Luft auf, der Wert der Reichsanleihen sank auf null. Allein die Städte im heutigen Kreisgebiet verloren viele Millionen Mark, waren fast ohne Mittel und mussten neben einer deutlichen Verringerung des Personals zur monatlichen Einziehung von Steuern und Gebühren übergehen. Besitzer von Sachwerten konnten sich glücklich schätzen und der viel beschworene „ gleiche Start für alle“ stand nur auf dem Papier.

 

Der Morgen des 21. Juni sah dann in den Innenstädten eine völlig veränderte Schaufensterlandschaft. Ob in Sontra oder Eschwege, Waldkappel oder Großalmerode, Hess. Lichtenau oder Witzenhausen, in den Schaufenstern häuften sich auf einmal die Waren, die man jahrelang vermisst hatte. Die Wirtschaft hatte in Erwartung der Währungsreform Waren gehortet, nun fehlte vielen Menschen das Geld, diese auch zu kaufen. Dennoch stabilisierte die Währungsreform nicht nur den Geldwert und trocknete den Schwarzmarkt binnen Kurzem aus, sondern gab auch den Startschuss für die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und ermöglichte das in den 50er Jahren so viel bestaunte „Wirtschaftswunder 

 

 

Herkulesaufgabe Entnazifizierung

 

Das mindestens genau so wichtige und eigentlich unabdingbare „Wunder der Vergangenheitsbewältigung“ blieb indes aus bzw. den nächsten Generationen überlassen. Im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland hatte man sich in der amerikanischen Zone aneinander gewöhnt - die Besiegten kämpften um eine einigermaßen erträgliche Zukunft, die es ohne umfassende Unterstützung der Amerikaner nicht geben würde, die Sieger hingegen verfolgten in missionarischem Eifer zwei Ziele: Sie wollten den Nationalsozialismus ausrotten und an seine Stelle mittels der sog. „Reeducation“ die Demokratie westlicher Prägung setzen. Letzteres gelang überraschend gut und weitgehend problemlos, was man von der Entnazifizierung noch nicht einmal ansatzweise behaupten konnte. Zentrale Bestandteile Letzterer waren ab Herbst 1945 die Hauptkriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und die, auf der Grundlage des im März 1946 verabschiedeten „Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“, allenthalben installierten sog. „Spruchkammern“. 

 

 

Spruchkammern

 

Anfang 1945 hatten noch fast neun Millionen Deutsche der NSDAP angehört, die Mitgliedschaften in anderen NS – Gliederungen, die die Zahl der eigentlichen Parteigenossen um ein Vielfaches übertrafen, nicht mit eingerechnet: Die große Mehrheit der Deutschen war also bis zum bitteren Ende auf vielfältige Weise eng mit dem Regime verbunden gewesen. Das war auch ein Grund dafür, dass von deutscher Seite aus keine eigenständige Abrechnung mit denen stattfand, die als aktive Mitläufer oder kleine Handlanger den Krieg und den Tod von Millionen Menschen mit zu verantworten hatten. Es blieb ruhig und selbst ausgewiesene Täter, die vor den Augen der Nachbarn schuldig geworden waren, wurden allenfalls mit Verachtung gestraft.

 

Ab Juli 1945 musste jeder Deutsche über 18 Jahre einen Fragebogen ausfüllen und durch die Beantwortung von insgesamt 131 Fragen seinen Lebensweg während des „Dritten Reiches“ offen legen. Deren Auswertung entschied dann darüber, ob die Person vom „Befreiungsgesetz“ nicht betroffen war oder aber durch die Spruchkammer entnazifiziert werden musste. Dort standen dann fünf Kategorien zur Be- und Verurteilung der Delinquenten zur Verfügung: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete.

 

Die Spruchkammern waren zwar von den Siegermächten gewollt, aber ansonsten eine rein deutsche Institution. Der Ablauf eines solchen Verfahrens war einem gerichtlichen Strafverfahren vergleichbar, allerdings mit umgekehrter Beweislast: Die Betroffenen mussten nachweisen, dass sie nicht aktiv in das NS – System verstrickt waren, also aktiv Belege zu ihrer Entlastung beibringen.  Auch fällte die Kammer keine Urteile, sondern “Sprüche“, die mit Sühnemaßnahmen wie Haft, Geldbuße oder Berufsverbot verbunden sein konnten. 

 

Grundsätzlich muss angemerkt werden, dass dieses schematisierte Verfahren viel zu viele betraf und den individuellen Lebenswegen nicht gerecht werden konnte. Die Kritik von deutscher Seite richtete sich vor allem gegen den Umfang - so mussten allein für den Kreis Eschwege im Juni 1946 insgesamt  42.347 und dem Kreis Witzenhausen rund 39.000 Fragebögen bearbeitet werden - denn die NS-Führer und Aktivisten, die man eigentlich hatte erfassen und bestrafen wollen, gingen in der schieren Masse der Parteigenossen regelrecht unter. Dennoch erwartete man seitens der Bevölkerung, wie der Werra-Bote am 19. Juni 1946 vorab berichtete „…mit Spannung und Ungeduld (…) die ersten öffentlichen Sitzungen der Spruchkammern, ihre Urteile und deren Vollstreckung.“ 

 

Die so ungeduldig erwarteten Sitzungen begannen dann Ende Juli 1946 – am 25. Juli in Witzenhausen unter Vorsitz des Amtsrichters Dr. Schulz und am 30. Juli in Eschwege unter der Leitung von Bürgermeister Lasch und Dr. jur. Lucas. Die wichtige Funktion der öffentlichen Ankläger versahen in Eschwege der Chef der Gendarmerie Küllmer und in Witzenhausen Paul Jörg, der als ehemaliger Vorsitzender der örtlichen KPD die meiste Zeit der NS-Diktatur in diversen Gefängnissen und Lagern verbracht hatte.

 

Foto PM

Bildunterschrift: Der Werra-Bote berichtet 1946 über die Eröffnung der Spruchkammern.

 

 

Der allererste Spruch vor der Eschweger Kammer gegen den Gutspächter Daffner aus Willershausen - Daffner wurde beschuldigt für den Tod eines polnischen Zwangsarbeiters verantwortlich gewesen zu sein - war zugleich auch der härteste, der in den beiden Kreisen insgesamt verhängt worden ist. „Daffner wird“, so der Werra-Bote über das Urteil, „… eingereiht in die Gruppe der Aktivisten. Er erhält zwei Jahre Arbeitslager, er hat 5000 Reichsmark Sühne zu zahlen, sein Vermögen kommt unter Treuhänderschaft. (…) Die Wohnungseinrichtung wird beschlagnahmt bis auf Schlafzimmer und Küche (…) er muss Dreiviertel seines Geschirrs und seiner Wäsche abgeben (…) Hinzu kommen die Ausschließung von öffentlichen Ämtern, Entzug des Wahlrechts usw.“          

 

Insgesamt war das Resultat dieser „Entnazifizierung“ hingegen ernüchternd. Als im April 1948 z.B. die Spruchkammer Witzenhausen ihre Arbeit beendete, waren 14 239 Personen vom Befreiungsgesetz betroffen gewesen. Davon wurden 11 088 Fälle aufgrund der Jugend- und Weihnachtsamnestie 1947 als erledigt zu den Akten gelegt und lediglich 1441 Fälle noch verhandelt. Von diesen galten 22 als entlastet und 1146 als Mitläufer, 251 waren Minderbelastete, 21 Belastete und lediglich ein einziger wurde als Hauptschuldiger / Aktivist verurteilt.

 

 

Politik der frühen Jahre

 

Betrachtet man in diesem Zusammenhang die politische Entwicklung in beiden Kreisen, so fällt als erstes die dominierende Rolle der SPD ins Auge, die sowohl in Eschwege als auch Witzenhausen zur maßgeblichen politischen Kraft wurde. Allerdings war diese Rolle im Kreis Witzenhausen ausgeprägter – hier gelangen den Sozialdemokraten, mit Ausnahme der Kommunalwahl vom 25. April 1948, bei allen Kreistagswahlen bis 1972 Ergebnisse weit jenseits der 50% Marke und mit Wilhelm Brübach stellten sie vom 01. Juli 1946 bis 31.12.1973 auch den Landrat.

 

Deutlich differenzierter stellte sich die politische Situation im Landkreis Eschwege dar. Zwar war die SPD auch hier ab 1956 die stärkste Partei mit Ergebnissen von 50% + x und stellte mit Eitel O. Höhne seit dem März 1961 auch den Landrat, aber bis zur Kommunalwahl des Jahres 1956 war die politische Landschaft doch wesentlich unübersichtlicher als bei den Witzenhäuser Nachbarn.

 

Bei den Kommunalwahlen 1948 wurden die Sozialdemokraten mit 37,7% hinter der LDP (43,6%) nur zweitstärkste politische Kraft und auch das Ergebnis der Kreistagswahlen des Jahres 1952 sah die SPD nur bei etwas mehr als 40%. Die Wahlen 1960 und 1964 fanden ohne politische Beteiligung der CDU statt und das daraus entstandene politische Vakuum wurde durch eine starke „Überparteiliche Wählergemeinschaft“ (ÜWG) und die FDP ausgefüllt. Diese doch etwas andere politische Gemengelage macht es auch erklärlich, dass in den fünfzehn Jahren bis zum Amtsantritt Eitel Höhnes fünf Landräte im Eschweger Schloss residierten: Neben Wolfgang Hartdegen und Dr. Busse, die als Männer der ersten Stunde ohne Mandat der Wähler bis zum Februar 1946 amtierten, noch der Sozialdemokrat Johannes Braunholz (01.07.1946 - 30.06.1948), Gerhard Pforr von der LDP (01.07.1948 - 30.06.1954) und schließlich Hansjochen Kubitz (BHE), dessen Amtszeit vom 05.07.1954 bis 15.12.1960 dauerte.

 

Ein Wort zum Schluss noch zur LDP. Diese Parte profitierte bei den Kommunalwahlen 1948 in starkem Maße davon, dass nunmehr auch ehemalige NSDAP – Mitglieder ihr Wahlrecht zurück erhalten hatten und mit der LDP massiv diejenige Partei wählten, in der es die größte Dichte an ehemaligen NS-Funktionären gab. Dieses Phänomen war in beiden Kreisen gleichermaßen virulent – so konnte z.B. in den Kreisstädten die LDP von 1948 – 1952 mit absoluten Mehrheiten nach Belieben schalten und walten: In Witzenhausen wählte man gleich zweimal (1948 und 1953) zwei ehemalige NS-Funktionäre zu Bürgermeistern und in Eschwege den ehemaligen Parteigenossen Walter Thom 1948 zum Bürgermeister sowie den ehemaligen NS-Bürgermeister Dr. Beuermann einstimmig (!) zum hauptamtlichen 1. Beigeordneten. 

 

Foto PM

Bildunterschrift: Auch eine mehr als fragwürdige Kontinuität der Eliten gibt es bereits wenige Jahre nach dem Krieg: Dr. Beuermann, ehemaliger NS-Bürgermeister von Eschwege, wird in der Kreisstadt 1948 einstimmig zum hauptamtlichen 1. Beigeordneten gewählt.

 

 

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