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Der Landkreis hat Geburtstag – ein Streifzug durch 200 Jahre Geschichte (Teil 7)

Berkatal, den 11. 08. 2021

Pressemitteilung

Eschwege, den 11. August 2021

 

 

Der Landkreis hat Geburtstag – ein Streifzug durch 200 Jahre Geschichte (Teil 7)

 

Zehnteilige Geschichtsserie anlässlich 200 Jahre Kurhessische Landkreise

 

Am 29. Juni 1821 wurden mit einem kurfürstlichen Organisationsedikt zur Umbildung der bisherigen Staatsverwaltung in Kurhessen die Landkreise erstmals als Verwaltungseben eingeführt. Diesen 200. Geburtstag der ehemaligen Landkreise Eschwege und Witzenhausen nehmen wir zum Anlass, um in einer zehnteiligen Serie ein Blick auf die Geschichte der Vorläufer des heutigen Werra-Meißner-Kreises zu werfen.

 

Autor der Serie ist Matthias Roeper, Leiter des Stadtarchivs in Witzenhausen und Verfasser zahlreicher stadt- u. heimatgeschichtlicher Publikationen.

 

Der heutige siebte Teil der Serie wirft den Blick auf die Nachkriegszeit.

 

 

Teil 7

 

Zwischen gestern und morgen

 

„Gebt mir zwölf Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wieder erkennen“, hatte Adolf Hitler in einer seiner Sportpalastreden Anfang 1933 verkündet. Und in der Tat, nach dem 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, war das Land nicht mehr wieder zu erkennen. Gemäß den Vereinbarungen, die die Anti – Hitler – Koalition am 11. Februar 1945 auf der Halbinsel Krim getroffen hatte, wurde das Deutsche Reich in vier Besatzungszonen aufgeteilt und die Gebiete östlich der Oder – Neiße – Linie unter russische und polnische Verwaltung gestellt.

 

Ganz besonders betroffen von dieser Zoneneinteilung war der Kreis Witzenhausen, der in seinem nördlichen Teil sowohl an die britische (zwischen Gertenbach und Hedemünden) als auch sowjetische (bei Eichenberg) Besatzungszone grenzte. Mit dem sog. „Wanfrieder Abkommen“ vom 17. September 1945 veränderte sich die Demarkationslinie zur sowjetischen Zone abermals, die nun ganz nah an die Stadt Bad Sooden – Allendorf heranrückte. Der Kreis Eschwege grenzte „nur“ an die sowjetische Zone, das dafür aber in erheblicher Länge.

 

Der Krieg war für beide Landkreise - sieht man einmal von zwei größeren Luftangriffen auf Eschwege (19.04.1944 und 22.02.1945) ab, die viele Tote und erhebliche Zerstörungen forderten - ohne größere Zerstörungen zu Ende gegangen. Nach den Ereignissen der letzten Kriegstage gehörten beide Kreise zur amerikanischen Zone und das erste Plakat, das in den Rathäusern und Häuserwänden zwischen Herleshausen und Ziegenhagen erschien, war die berühmte „Proklamation Nr.1“ Dwight D. Eisenhowers, deren entscheidende Passage die Zukunft der bisherigen Machthaber betraf:

 

„Wir kommen als ein siegreiches Heer, jedoch nicht als Unterdrücker. In dem deutschen Gebiet, das von den Streitkräften unter meinem Oberbefehl besetzt ist, werden wir den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtssätze, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben.“  

 

Weiterhin wurde der Bevölkerung mitgeteilt, dass die Ausgangsbeschränkung von 19 bis 6 Uhr festgesetzt sei. In dieser Zeit durften Zivilisten, ausgenommen Ärzte und Angehörige ähnlicher Berufe, ihre Häuser nicht verlassen. Darüber hinaus durfte sich niemand aus dem jeweiligen Gemeindegebiet weiter als sechs Kilometer entfernen, es sei denn, er besaß einen Passierschein. Eisenbahnen – so sie denn überhaupt fuhren – und Privatfahrzeuge durften ohne besondere Erlaubnis nicht benutzt werden, Ansammlungen von mehr als fünf Personen waren verboten.

 

Foto PM

Bildunterschrift: Die Karte zeigt die Besatzungszonen nach Kriegsende.

 

 

Zeit des Übergangs

 

Am 21. Mai 1945 wurden Wolfgang Hartdegen und Fritz v. Coelln, letzterer seit Mitte April Bürgermeister der Kreisstadt Witzenhausen, von der alliierten Militärregierung zu den ersten Nachkriegslandräten ins Eschweger Schloss und ins Witzenhäuser Kreishaus berufen – das „normale“ Leben lief wieder an, die Konturen des Kommenden begannen sich abzuzeichnen. Gemeinsam mit vielen anderen überall im Land, die, wenn sie auch nicht ausgewiesene Gegner der Nationalsozialisten gewesen waren, doch zumindest den Verlockungen der NS-Partei widerstanden hatten, gingen diese  Männer und Frauen der ersten Stunde an die Errichtung eines demokratischen Staatswesens und den Wiederaufbau.

 

Es war ein Unterfangen mit vielen Fragezeichen, das zudem von den Siegermächten – auch den Westalliierten – anfangs mit erheblichem Argwohn beobachtet und keineswegs immer nur unterstützt wurde. Und es war ein Unterfangen, das alle noch vorhandenen Kräfte der Besiegten bis zum Äußersten beanspruchte und die, die sich engagierten, vor fast unlösbare Probleme stellte.

 

Deutschland, aufgeteilt in vier voneinander streng getrennte Zonen, in die hinein und aus denen heraus niemand ohne Passierschein kam, ohne einheitliche staatliche Verwaltung und Regierung, ohne Güter- und Personenverkehr, mit tausenden zerstörter Brücken, Bahnhöfen und 2,25 Millionen zerstörter Wohnungen, ohne Industrie, Rohstoffe, Nahrung, der größte Teil seiner Männer hinterm Stacheldraht der Gefangenenlager – soweit sie nicht verwundet, gefallen oder verschollen waren – ein Land mit Nahrungsmittelrationen von 1150 Kalorien täglich, in das nun auch noch Millionen von Flüchtlingen einströmten – dieses Deutschland also ging an seinen infrastrukturellen, gesellschaftlichen und politischen Neuaufbau.

 

 

Demokratie wagen

 

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“ - wer kennt ihn nicht, diesen fast schon legendären Satz Willy Brandts, der zur zentralen Aussage seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler vom 28.10.1969 und zum Bekenntnis einer ganzen Generation wurde. Dass 24 Jahre nach Kriegsende, Nazi – Diktatur und Holocaust ein frei gewählter Kanzler der Bundesrepublik Deutschland überhaupt davon sprechen konnte, „mehr“ Demokratie zu wagen, wäre für die Menschen in der zweiten Jahreshälfte 1945 schier unvorstellbar gewesen – zu sehr lasteten auf ihnen sowohl die Folgen von all dem was geschehen war, als auch das weit verbreitete Gefühl, von nun an „ohne uns“. Darüber hinaus mussten viele Deutsche überhaupt erst einmal die „demokratische Schulbank“ drücken, denn fast ein Viertel der Bevölkerung hatte bewusst niemals etwas anderes erlebt als die gerade erst zu Ende gegangene Diktatur.

 

Nur wenige Monate nach Kriegsende begann das politische Leben wieder – zwar vorerst nur auf lokaler Ebene, aber nach demokratischen Prinzipien. „In ganz Deutschland“, so hieß es in Absatz II des Potsdamer Abkommens vom 2.8.1945, „….sind alle demokratischen und politischen Parteien zu erlauben und zu fördern mit der Einräumung des Rechts, Versammlungen einzuberufen und öffentliche Diskussionen durchzuführen.“ 

 

Unabdingbar für dieses Vorhaben war die Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit, mithin also vor allem die Schaffung einer freien Presse als unverzichtbaren Bestandteils pluralistischer Streitkultur. Am 1. August erschien in Frankfurt die dortige „Rundschau“ und am 26. September in Kassel die „Hessischen Nachrichten“ (HN), die ab dem 23. Januar 1946 um Regionalseiten für die nordhessischen Landkreise erweitert wurde. Für unsere Region nannten sich diese Seiten „Werrabote“ und erschienen nun zweimal wöchentlich mit aktuellen Nachrichten und Hintergrundberichten aus den Kreisen Eschwege und Witzenhausen.

 

Foto PM

Bildunterschrift: Die Abbildung zeigt den Titel der Erstausgabe des Werra-Boten.

 

 

Schon unmittelbar nach Kriegsende hatten sich aus Widerstandsgruppen und Verfolgten des NS – Regimes sog. „Antifaschistische Ausschüsse“ gebildet, die sich mit dem Beginn des vorsichtigen Aufbaus einer demokratischen Parteienlandschaft im Sommer 1945 wieder auflösten.

 

Diese Parteienlandschaft wurde von den Traditionsparteien SPD und KPD und der sich neu bildenden Christlich – Demokratischen Union (CDU) - hervorgegangen aus dem katholischen Zentrum und dem protestantisch geprägten Christlich – Sozialen Volksdienst (CSVD) – geprägt. Hinzu kam die „Liberal – Demokratischen Partei (LDP)“, aus der dann die am 11. Dezember 1948 im Heppenheim gegründete „Freie Demokratische Partei“ (F.D.P.) hervorging. Diese vier, zwischen dem 13.12.1945 und dem 11.01.1946 zugelassenen Parteien, stellten sich Ende Januar 1946 der Gemeindewahl, Ende April 1946 der Kreistagswahl, Ende Juni 1946 der Wahl zur Verfassungsberatenden Landesversammlung und am 01.12.1946 der Wahl zum ersten hessischen Landtag.

 

Foto PM

Bildunterschrift: In einer Neujahrsumfrage der Hessischen Nachrichten kamen die kurhessischen Parteienführer der neu- bzw. wiedergegründeten Parteien am 1. Januar 1946 zu Wort.

 

 

Erste Schritte in eine neue Zeit

 

Wohl kaum ein Ereignis stand so sehr für Zeitenwende und demokratischen Neuanfang wie diese ersten freien Wahlen. Wahlberechtigt waren Frauen und Männer ab 21 Jahren und vorerst noch vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben diejenigen Deutschen, die vor dem 1. Mai 1937 NSDAP – Mitglieder waren, dem System als Amtsträger gedient oder sich auf andere Weise aktiv als Nationalsozialisten hervorgetan hatten – mithin knapp 10% der Wahlberechtigten. Das passive Wahlrecht setzte die Militärregierung auf 25 Jahre fest, die Dauer der ersten Legislaturperiode sollte in Kommunen wie auch Kreisen erst einmal zwei Jahre betragen und die Militärregierung behielt sich vor, die gewählten Kandidaten zu überprüfen und ggf. deren Wahl zu annullieren. Bei diesen Kommunal- und Kreistagswahlen galt zudem eine Sperrklausel von 15 %, die dann ab Sommer 1946 auf 5 Prozent reduziert wurde.

 

Die Wahlkämpfe waren kurz und die Mittel, die den Parteien zur Verfügung standen, situationsbedingt äußerst bescheiden. So richtig los mit dem Wahlkampf für die Kommunalwahlen ging es auch erst in der zweiten Januarwoche und für die Kreistage Anfang April, wobei die Übergänge fließend waren. Inhaltlich waren die Parteien relativ nah beieinander, wie sich bei einem Blick in ihre Programme erkennen lässt. Da stand die KPD für „Einheit und Demokratie“, wollten die Sozialdemokraten „für ein neues Deutschland“ kämpfen und forderte die CDU in ihrem Notprogramm „Brot, Obdach und Arbeit für alle“. Gemeinsam war ihnen auch die, wie es die CDU formulierte, „Verstaatlichung der Monopol – Unternehmen.“ Bei diesem Punkt hatte nur die LDP andere Vorstellungen und lehnte „Sozialisierungsexperimente“ kategorisch ab.

 

Die Wahlbeteiligung war in beiden Landkreisen bei beiden Urnengängen fast identisch hoch - rund 88 % bei den Kommunalwahlen Ende Januar und knapp 83 % bei den Kreistagswahlen Ende April. Der Blick auf die Ergebnisse in den Kreisen zeigt, zumindest was die Sitzverteilung anbelangt, sowohl im Eschweger Schloss (SPD 16 Sitze gegenüber 11 von CDU und LDP) als auch im Witzenhäuser Kreishaus (SPD 17 Sitze gegenüber 7 CDU) eine ähnlich starke Dominanz der SPD. Etwas weniger deutlich gestaltete sich im Kreis Eschwege diese Dominanz bei den abgegebenen Stimmen, denn hier schrammte man seitens der Sozialdemokraten mit 49,7% hauchdünn an der absoluten Mehrheit vorbei, wohingegen ihre Witzenhäuser Parteifreunde diese mit 56,7% deutlich erreichten.

 

Foto PM

Bildunterschrift: Die ersten Kreistagswahlen brachten den Sozialdemokraten sehr gute Ergebnisse.

 

 

Neue Landräte

 

Beide Kreistage hatten ihre konstituierende Sitzung am Donnerstag den 12. Juni 1946. Die Rede, die Bürgermeister Herzog aus Frieda als stellvertretender Landrat zu Beginn der Sitzung in Eschwege hielt, kann für die Gefühle stehen, die alle gewählten Volksvertreter damals bewegt haben werden. „Er stellte mit Genugtuung fest“, so der „Werrabote“ vom 15. Juni 1946, „…dass nun endlich wieder Gelegenheit gegeben sei, sich frei aussprechen zu können. Jeder einzelne solle seiner Verpflichtung eingedenk sein, dass er als Kreistagsabgeordneter mit dazu beitragen müsse, aus den Trümmern einen neuen demokratischen Staat aufzubauen und dass er seine ganze Kraft einzusetzen habe, um für den Kreis wieder annehmbare Verhältnisse zu schaffen.“ Während daraufhin in Eschwege die Wahl der Kreisdeputierten, Ausschüsse und Kommissionen im Mittelpunkt der Sitzung standen – so wurden u. a. die beiden Bürgermeister Lasch (Eschwege) und Herzog (Frieda) zu Kreisdeputierten gewählt - schritt man am selben Tag im Nachbarkreis Witzenhausen bereits zur Wahl des neuen Landrats.

 

Gewählt wurde hier ohne Gegenstimme Wilhelm Brübach (SPD) aus Hopfelde und behielt, als erster und letzter Nachkriegslandrat des Kreises Witzenhausen zugleich, sein Amt fast 28 Jahre bis zur Auflösung des Kreises im Rahmen der Gebietsreform 1974. Zum neuen Landrat des Kreises Eschwege wählten die Abgeordneten am 24. Juni den Sozialdemokraten Johannes Braunholz, dessen Amtszeit jedoch ungleich kürzer war und schon am 30. Juni 1948 endete.

 

 

Klares Bekenntnis zur Demokratie

 

Wie sehr diese erste Hälfte des Jahres 1946 mit seinem beginnenden demokratischen Leben symbolhaft für den Beginn einer neuen, besseren Zeit stand, zeigt der Vergleich der Schlagzeilen der „Niederhessischen Zeitung“ vom 30. Januar 1945 und des „Werraboten“ vom 29. Januar 1946.

Beschwor man 1945 am 12. Jahrestag der sog. „Machtergreifung“, noch das „heiße Sinnen“ und die „stahlharten Nerven“, mit denen „das Reich (…) an der Schicksalsklippe seines völkischen Bestehens“ sich den „Massen des aus dem Osten heranbrandenden Bolschewismus“ entgegen stellte, so wurde in der Wahlberichterstattung vom 29. Januar 1946 unter der Überschrift „Klares Bekenntnis zur Demokratie“ die Hoffnung deutlich, „dass die beiden Wahltage das bringen mögen, was sich die Bevölkerung und die Welt von ihnen versprechen: „Frieden und Eintracht“       

 

 

 

Bild zur Meldung: Der Landkreis hat Geburtstag – ein Streifzug durch 200 Jahre Geschichte (Teil 7)